Sachverständiger Richard Kille:

Plädoyer für Sonderkonstruktionen

Der Sachverständige Richard Kille ist ein bekennender Fan von Sonderkonstruktionen. In Seminaren und bei Verbandsveranstaltungen argumentiert der Kölner gerne: Ohne Sonderkonstruktionen von heute wären genormte Produkte von morgen gar nicht möglich. Kille spann in seinem Plädoyer für Sonderkonstruktionen einen Bogen von Merkblättern über typische Beispiele, Fälle aus seiner Sachverständigenpraxis bis zur Bedeutung von Sonderkonstruktionen für das verlegende Handwerk.

Der Parkett- und Bodenleger kommt beim Studium von Normschriften, Merkblättern und Richtlinien an dem Begriff "Sonderkonstruktion" nicht vorbei. Im neuen Kommentar zur DIN 18356 "Parkett- und Holzpflasterarbeiten" auf dem Stand der VOB 2019 ist beim ersten Durchblättern der Begriff "Sonderkonstruktion" oder auch "Sonderprodukt" gleich an fünf Positionen auffällig.

Unter der Rubrik "Sortiermerkmal Risse" wird zum Beispiel zu Parkettelementen im Used-Look der Hinweis gegeben, dass manche Produkte wohl nicht mehr normengerecht hergestellt seien, sodass sich technische und rechtliche Konsequenzen ergeben, dies zu beachten.

Hierzu wird dann wie folgt geschrieben: "Sofern es sich dann bei den vorgenannten Parkettböden mit besonderen Erscheinungsbildern um Sonderkonstruktionen handelt, bestehen gegenüber dem Besteller besondere Hinweis- und Sorgfaltspflichten.

Es ist u. a. darauf hinzuweisen, dass der Parkettboden (z. B. wegen geringer tatsächlicher Nutzschicht) ggf. nicht renoviert werden kann, die ursprüngliche Optik nicht wiederherstellbar ist und bei sehr rustikalen Erscheinungsbildern damit zu rechnen ist, dass es im Gebrauch zu Absplitterungen, Ausbrüchen u. v. a. m. kommen kann."
In der Rubrik "Bewegungsfugen" wird ein treffendes Praxisbeispiel wie folgt beschrieben:

"In der Praxis werden Bewegungsfugen immer wieder mit einem ca. 1 mm dicken Vlies überdeckt bzw. überklebt, damit der Oberboden durchgängig verlegt werden kann. Auch wenn diese Art der Ausführung technisch nicht zu einer Beanstandung führen muss und vielfach erfolgreich ausgeführt wurde, ist die Ausführung nicht im Sinne der ATV VOB/C DIN 18 356 Parkett- und Holzpflasterarbeiten, sondern als Sonderkonstruktion anzusehen."

Unter der Rubrik "Schnellestriche und beschleunigte Estrichsysteme" wird nicht der Begriff "Sonderkonstruktion" verwendet, sondern der Estrich mit Zusatzmitteln als Sonderestrich wie folgt beschrieben:

"Derartige Sonderestriche kann im Hinblick auf die Belegreife im Grunde nur der messen, der sie herstellt, dem die Zusammensetzung bekannt ist und der beim Mischvorgang - der genauestens einzuhalten wäre - zugegen ist. Mithin der Estrichleger als Hersteller."

Auch im verbändeübergreifenden Kommentar zur ATV DIN 18 365 "Bodenbelagarbeiten" ist die Sonderkonstruktion etabliert. Unter anderem heißt es zu Punkt 3.6.1 bezüglich Sockel- und Deckleisten aus Holz, Metall und Hart-PVC etc. wie folgt:

"Stellstreifen/Stellsockel sind wie Sonderkonstruktionen zu behandeln."

Auch wenn viele Sonderkonstruktionen oft den in der Praxis anerkannten Stand der Technik widerspiegeln, ist es besonders wichtig zu wissen, dass diese nicht der Norm entsprechen und wenn keine besonderen Vertragsvereinbarungen getroffen wurden, üblicherweise der Auftragnehmer, das heißt der Handwerker, im gesetzlich üblichen Rahmen haftet - Stichwort: Gewährleistung.

Damit Parkett- und Bodenleger zum Thema Sonderkonstruktion "nicht im Regen stehenbleiben", haben der Bundesverband Parkett und Fußbodentechnik und der Industrieverband Klebstoffe mit der Fachinformation "Sonderkonstruktionen" oder "Normkonstruktion - was ist das und was müssen Parkett- und Bodenleger beachten?" einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung geleistet.

Unbedingt lesen und zu finden:
www.klebstoff.com oder www.dsvt.de.

Mit Beginn des Jahres 2021 wurde im Februar das TKB-Merkblatt 20 "Übliche Sonderkonstruktion; Sammlung häufig angewandter Sonderkonstruktionen" veröffentlicht.

Der Titel des Merkblattes darf Fragen aufwerfen, denn warum ist eine häufig angewandte Sonderkonstruktion eine Sonderkonstruktion, wenn sie doch üblich ist und ggf. sogar den in der Praxis anerkannten Stand der Technik widerspiegelt: weil auch eine in der Praxis bewährte Sonderkonstruktion nicht "automatisch von selbst" zum Normenstandard wird.

Um die Aufmerksamkeit der interessierten Kreise und Leser zum Thema Sonderkonstruktion zu sensibilisieren, darf in diesem Zusammenhang aus dem "Fußbodenatlas, Band I; Fußböden richtig planen und ausführen", Ausgabe 2011, von Dr. A. Unger, Architekt/Dipl.-Ing. (FH), Donauwörth, hingewiesen werden, in dem im Stichwortlexikon unter dem Begriff "Sonderkonstruktion" wie folgt aufgeklärt wird:

"Bauart, welche nicht genormt ist und für die i. d. R. die ausführende Firma eventuell in Verbindung mit einem Zulieferer haftet. Es handelt sich teilweise um neue Produkte, welche sich in der Praxis noch nicht über lange Zeit bewährt haben.

Sonderkonstruktionen entsprechen i. d. R. nicht den anerkannten Regeln der Technik, sind aber wichtig für die Einführung neuer Produkte und Verfahren (s. a. Anerkannte Regeln der Technik).

Der Auftragnehmer sollte immer (am besten vor Vertragsabschluss) auf den Status der Sonderkonstruktion hinweisen, unabhängig, ob diese vom AG ausgeschrieben ist, oder vom AN selbst angeboten wird.
Das Austauschen einer Sonderkonstruktion (auf die nicht ausdrücklich hingewiesen wurde) gegen eine Konstruktion nach den anerkannten Regeln der Technik wurde von Gerichten in der Vergangenheit teilweise als unverhältnismäßig eingeschätzt, wenn die Sonderkonstruktion technisch als gleichwertig betrachtet wurde."

Sonderkonstruktion = Problemlösung

Ein Grund, sich mit nicht genormten Sonderkonstruktionen, Sonderlösungen und in der Kombination dann auch mit Sonderprodukten auseinanderzusetzen, sind die Herausforderungen bei der Sanierung von Bestandsgebäuden, wenn es darum geht, dass Ausführungen nach Norm praktisch nicht möglich sind und/oder objekt- und zweckgebunden ein unverhältnismäßig hoher finanzieller oder zeitlicher Aufwand entsteht, der nicht tragbar ist.

Ein Fall aus der Vergangenheit

Anfang der 1990er-Jahre wurden in Berlin-Spandau die Dachböden ausgebaut, sodass über 100 neue Dachgeschosswohnungen entstanden. Die vorhandenen, alten Dielenböden wurden rund 15 cm hoch aufgedoppelt; das heißt, mit Einbau von Dämmstreifen-unterlegten Lagerhölzern wurden 19mm dicke Nut-Feder-verleimte Spanplatten verlegt, mit den Lagerhölzern verschraubt und mit textilen und elastischen Bodenbelägen ausgestattet.

Nach dem dritten Jahr der Nutzung der Wohnungen reklamierten die Mieter zunehmend, dass die Fußböden beim Begehen "trampolineffektartig" nachgaben. Dieser Effekt führte so weit, dass Vitrinenschränke beim Vorbeigehen schwankten und die Gläser in den Schränken klirrten.

Vereinzelt ist beim Durchschreiten der Wohnung durch den "Schwingungseffekt" der Spanplatten die ein oder andere Bodenvase umgefallen. Mit der Durchführung einer gerichtlichen Beweissicherung wurde die Ursache geklärt und festgestellt, dass im Zuge der Aufdopplung der alten Dielenböden der Dachgeschosse für die Höhenjustierung nasses Restholz verwendet wurde, das entsprechend dem Wohnraumklima getrocknet ist, sodass Unterkeilungen verrutschten und die Auflager für die Spanplattenebene bzw. Lagerhölzer zum Teil fehlte.

Festgestellt wurde, dass über 90 % der Mietwohnungen hiervon betroffen waren. Eine Entmietung von nahezu 100 Wohnungen zwecks Rückbaus der Fußböden kam nicht in Betracht und es wurde nach Lösungen gesucht, die Spanplattenböden mit Umsetzen der Mieter innerhalb der Wohnanlage schnellstmöglich und effektiv instand zu setzen.

Eine Idee wurde zum Erfolg und so entstand eine Sonderkonstruktion, die zunächst in einer Mietwohnung über ein Jahr erprobt wurde. In der leerstehenden Mietwohnung wurden die textilen und elastischen Bodenbeläge von der Oberfläche der Spanplattenebene entfernt.

Danach wurden, entsprechend der Raumgröße, im angepassten Raster die Spanplatten mit einer Lochsäge (Ø 50 mm) durchbohrt und Schlauchbeutel mit einem Durchmesser von 20 cm eingeführt, die dann mit einem Zwei-Komponenten-PU-Schaum ausgespritzt worden sind.

Auf der Oberfläche der vorhandenen Spanplattenebene wurde dann eine zweite Nut-Feder-verleimte, vollflächig geklebte Spanplattenebene stoßversetzt arretiert und neue textile und elastische Bodenbeläge verlegt/geklebt.

Die anschließende Kostenkalkulation führte zu der Erkenntnis, dass die Mängelbeseitigungsmaßnahme als Sonderkonstruktion ca. ein Drittel der Kosten verursacht, wie diese im Vergleich beim Rückbau der Fußbodenkonstruktionen entstanden wären. So haben sich die beteiligten Parteien geeinigt, in nahezu 100 Wohnungen das System als Sonderkonstruktion einzusetzen.

Die Maßnahme dauerte insgesamt rund drei Jahre und blieb erfolgreich; das heißt, noch heute werden die Fußbodenkonstruktionen innerhalb der Dachgeschosswohnungen beanstandungsfrei genutzt.

Ohne Sonderkonstruktionen
keine Entwicklung für die Zukunft

Während das zuvor genannte Beispiel eine echte Konstruktion darstellt, ist zu berücksichtigen, dass unter dem Begriff "Sonderkonstruktionen" häufig Sonderlösungen und -produkte oder vielleicht auch Sondersysteme geführt werden.

Nicht selten stehen hinter Sonderkonstruktionen, Sonderlösungen oder auch Sonderprodukten Ideen zu Problemlösungen. Ohne den Mut der Pioniere zu Sonderkonstruktionen wären zum Beispiel die zwischenzeitlich genormten Doppel- und Hohlböden nicht so weit entwickelt wie heute.

Auch das schwimmende Verlegen zweilagiger Unterbodensysteme, die aus z.B. 3 mm dicken, miteinander klebend verbundenen Holzfaserplatten bestehen, um dann elastische und textile Bodenbeläge zu verlegen, ist als Sonderkonstruktion oder Sonderlösung zu sehen, die zwischenzeitlich erfolgreich im Objektbereich eingesetzt wird.

Hier sehe ich z. B. ein System, das sich bereits über lange Zeit bewährt hat, auch wenn die diesbezügliche Normung hinten ansteht.

Die jüngste Entwicklung bei elastischen Bodenbelägen ist die vollflächige, lose Verlegung von Kunststoff-Bodenbelagbahnen, auch für den Einsatzbereich in Schulen, Pflegeheimen und Kliniken.

Zu berücksichtigen ist, dass in der VOB Teil C DIN 18 365 "Bodenbelagarbeiten" unter Punkt "0.3 Einzelangaben bei Abweichungen von den ATV" darauf hingewiesen wird, dass in dem betreffenden Fall in der Leistungsbeschreibung eindeutig und im Einzelnen die abweichende Regelung beschrieben sein muss, sodass unter Abschnitt 3.4.3 wie folgt dargelegt wird:

"Wenn Bodenbeläge nicht vollflächig geklebt, sondern z. B. lose verlegt, mit Haftkleber fixiert oder gespannt werden sollen."

So entstehen Grauzonen, die dann zu Definitionen von Sonderkonstruktionen, Sonderlösungen oder Sonderprodukten führen.

Unzählige Beispiele in der historischen Entwicklung der Fußbodentechnik sind Realität, sodass klar wird, dass Sonderkonstruktionen, Sonderlösungen und -produkte einerseits die Basis der Weiterentwicklung darstellen und andererseits technisch das Fachhandwerk, das heißt Parkett- und Bodenleger, prädestiniert sind, Sonderkonstruktionen, Sonderlösungen und -produkte einzusetzen und anzuwenden.

Wenn es nur noch vollstufig standardisierte, genormte Baukastensysteme gibt, ist die Abgrenzung zwischen dem "Allround-Handwerker" und dem "Fachhandwerker" nicht so prägnant wie bei Sonderkonstruktionen, Sonderlösungen und -produkten.

Parkett- und Bodenleger
nicht im Regen stehenlassen

Die Kehrseite der oft von Key-Accountern angepriesenen und von Architekten und Planern gewünschten Sonderkonstruktionen, Sonderlösungen und Sonderprodukten ist die Frage nach der Gewährleistung und Haftung.

Hier lohnt es sich, den Fachanwälten für Architekten und Baurecht unserer Branche zuzuhören, die sinngemäß immer wieder auf die Grenzbereiche der normativ geregelten und den Regeln des Fachs entsprechenden Ausführungsleistungen aufmerksam machen, um klarzustellen, dass gegenüber dem Auftraggeber/Bauherren eine besondere, umfangreiche Hinweis- und Aufklärungspflicht besteht, wenn es darum geht, Sonderkonstruktionen im Bau auszuführen oder Sonderlösungen anzubieten, die ggf. mit Sonderprodukten realisiert werden.

Hier geht es um klare Beschaffenheitsvereinbarungen, nachvollziehbar dokumentierte Aufklärung über die Risiken, die bei Sonderkonstruktionen, Sonderlösungen und -produkten nicht auszuschließen sind.

Auch wenn der Auftraggeber gerne die Möglichkeiten von Sonderkonstruktionen, Sonderlösungen und -produkten wahrnimmt, weil er vielleicht mit herkömmlichen Lösungen nicht sein Ziel erreicht, ist der Bauherr vom Auftragnehmer im Vorfeld über mögliche Risiken aufzuklären.

Das heißt, eine klare vertragliche Vereinbarung mit dem Bauherren ist genauso wichtig wie den System-/Produktlieferanten, das heißt die Industrie, verantwortlich mit einzubeziehen, um Gewährleistungsrisiken auszuschließen.

Hier sollte der Parkett- und Bodenleger die im Regelfall von der Zulieferindustrie angebotene Objektberatung genauso in Anspruch nehmen wie die schriftliche, objektbezogene System- und Aufbauempfehlung annehmen.

Fazit: Die anerkannten Regeln der Technik und die Regeln des Fachs entwickeln sich zunehmend dynamischer und sind geprägt von dem Wunsch des fortschrittlichen Bauens, der ohne Sonderkonstruktionen, Sonderlösungen und -produkte sicher nicht möglich wäre, da die Normung mit der Aktualität häufig hinten ansteht.
Plädoyer für Sonderkonstruktionen
Foto/Grafik: Knauf/Stephan Falk
Flächenhohlboden im Berliner Stadtschloss.
Plädoyer für Sonderkonstruktionen
Foto/Grafik: IFR Kille
Richard Kille ist von der Hanwerkskammer zu Köln öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für das Raumausstatter-Handwerk, Parkettleger-Handwerk, Bodenleger-Gewerbe und Estrichleger-Handwerk.
aus FussbodenTechnik 04/21 (Wirtschaft)