Innenstadt - Boris Hedde, IFH KÖLN

"Den Innenstadtbesuch mit Mehrwert aufladen"


Krisengebiet Innenstadt: Die City als reiner Handelsstandort hat es angesichts des wachsenden Online-Geschäfts zunehmend schwer. Neue Konzepte müssen her. Boris Hedde, Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung, IFH Köln, erklärt im Haustex-Interview, wie diese aussehen könnten.

Haustex: Die Innenstadt hat es
aktuell nicht leicht - ist sie
womöglich ein Auslaufmodell?

Boris Hedde: In der Form wie wir sie kannten, ist sie ein Auslaufmodell. Trotzdem wird die Innenstadt nach tausenden von Jahren auch weiterhin ein Zentrum gesellschaftlichen Lebens bleiben. Die Frage ist nur, schaffen wir es, sie so zu gestalten, dass es auch ein positiv aufgeladenes Zentrum bleibt?

Haustex: Was meinen Sie?
Ist das möglich?

Hedde: Ich bin guter Dinge, dass wir durch den Druck der sich lange aufgebaut hat und durch die Corona-Krise noch verstärkt wurde, bereit sind, die Ärmel hochzukrempeln und endlich vom Reden ins Tun zu kommen.

Haustex: Was wäre der erste
Schritt in Richtung erfolgreiche
Zukunft?

Hedde: Für mich gilt: Alle Macht geht von den Bürgerinnen und Bürgern aus. Wenn wir verstanden haben, was sie bewegt und welche Erwartungen sie haben, finden wir auch die richtigen Konzepte und stellen sicher, das die Besuchsfrequenz in den Innenstädten wieder zunimmt oder zumindest beibehalten wird.

Haustex: Die Analyse von Kunden-
wünschen gehört ja zu den
Kernkompetenzen des IFH KÖLN.

Hedde: Wir erforschen seit vielen Jahren, was Passantinnen und Passanten an einer Innenstadt attraktiv finden. Was bewerten sie höher? Was weniger hoch? Und wo lassen sich daraus Stellschrauben für die zukünftige Entwicklung von Standorten ableiten?

Haustex: Zu welchen Ergebnissen
kommen Ihre Analysen?

Hedde: Wir haben vier Richtungen ermittelt: Erstens gilt es, die wichtigsten Megatrends zu berücksichtigen. Zweitens sollten die Zielgruppen, die örtlich anzutreffen sind, bekannt sein. Drittens müssen sie, die Funktionen, die die Stadt ausweisen möchte, definiert werden. Und schließlich sollte das Markenimage, also die Positionierung einer Stadt gepflegt werden. Alle Punkte hängen zusammen, haben aber auch eine separate Perspektive.

Haustex: Gehen wir mal Punkt für
Punkt durch: Die aktuellen
Megatrends...

Hedde: ...sind natürlich Nachhaltigkeit und Digitalisierung, aber auch die Themen Urbanisierung oder Migration. Sie sollten für die Verbraucherinnen und Verbraucher unbedingt spürbar sein in der Innenstadt.

Haustex: Zur Definition der
Zielgruppe: Das IFH Köln macht
zahlreiche Verbraucher-Be-
fragungen. Wie stehen die
Menschen zum Thema Innenstadt?

Hedde: Zuletzt haben wir im Herbst 2020 in 107 Innenstädten knapp 60.000 Menschen interviewt. Dabei hat sich gezeigt, dass es vor allem die Älteren sind, die in der Innenstadt anzutreffen sind. Die Gruppe der unter 25-Jährigen hingegen versorgt sich vornehmlich online und nutzt auch hier weniger die lokalen Marktplätze, von denen während der Pandemie ja viele entstanden sind, sondern die großen Plattformen.

Haustex: Das heißt, die Innenstädte
müssen für die junge Zielgruppe
attraktiver werden.

Hedde: Genau, in den Interviews haben wir die Jugendlichen und jungen Erwachsenen entsprechend gefragt, was sie mit der Innenstadt verbinden und das war nicht nur Shopping. Vielmehr wünschen sie sich einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen und Leute treffen können.

Haustex: Die Innenstadt sollte
demnach kein reiner Handels-
standort mehr sein.

Hedde: Das lässt sich daraus klar ableiten in Form von fünf "I": Information, Interaktion, Involvement, Identifikation, Inspiration. Berücksichtigen wir alle Punkte, nähern wir uns dem Bild, wie wir die Innenstadt in der Zukunft gestalten sollten. Nämlich nicht nur durch ein konsumorientiertes Angebot, sondern durch ganzheitliche Modelle. Dabei spielt natürlich auch die Gastronomie eine große Rolle.

Haustex: Glauben Sie daran, dass
die Menschen bereit sind, diesen
Weg mitzugehen?

Hedde: Die Situation der Innenstädte ist auf jeden Fall ins Bewusstsein gerückt. Die Pandemie-Zeit mit ihren Lockdowns hat vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern überhaupt erst klargemacht, welche Gefahr der Online- für den stationären Handel bedeutet. Natürlich werden sie auch weiter im Netz shoppen, sind aber darüber hinaus offener, auf Anreize zu reagieren, die sie in die Innenstadt locken.

Haustex: Welche könnten das
sein?

Hedde: Das kann mit digitalen Möglichkeiten geschehen, über Aufenthaltsaufwertung etwa in Form von Grünflächen, die Vereinfachung von Prozessen, die Verkürzung von Wegen und vieles mehr.

Haustex: Auch wenn sie um die
Bedeutung ganzheitlicher
Konzepte wissen, tun viele
Städte sich bei der Umsetzung
schwer.

Hedde: Da hilft es, sich zusammenzutun oder sich Hilfe zu suchen. Ein Beispiel ist die Initiative Stadtretter (siehe Kasten), die wir als IFH KÖLN unterstützen. Im Lockdown als virtuelle Zukunftswerkstatt angefangen, ist daraus bis heute ein Netzwerk mit fast 1.000 Mitgliedern entstanden, das genau diese Fragen beantwortet: Was ist der operative Ansatz? Welche Erfahrungen kann man mit anderen teilen? Wie kommt man in die Machen-Ebene? Es gibt keine Schablone, das steht außer Frage, aber vielleicht gibt es Impulse, wo man voneinander lernen kann.

Haustex: Die Initiative beinhaltet
ja auch eine enge Zusammenarbeit
mit den Kommunen, denen ja oft
eine gewisse Schwerfälligkeit
nachgesagt wird.

Hedde: Wir erleben derzeit das genaue Gegenteil: einen sehr aktiven und willensorientierten Dialog. Dazu kommen eine Menge Fördermöglichkeiten für Innenstadtprojekte.

Haustex: Das IFH Köln startet
aktuell ein Projekt zur Vermeidung
von Leerstand in Innenstädten.

Hedde: Ja, die Stadtlabore für Deutschland. In 15 Modellstädten wollen wir bis Ende 2022 eine digitale Plattform für ein proaktives Ansiedlungsmanagement entwickeln. (Siehe Artikel "Tinder" für Innenstadtimmobilien)

Haustex: Vielen Eigentümern von
Innenstadtimmobilien fällt es ja
noch schwer, sich mit dem Wandel
abzufinden.

Hedde: Das stimmt, aber ohne sie gehen die Konzepte nicht auf. Das steht fest, genauso aber auch, dass es Mieten, wie man sie früher bekommen hat, auf Dauer nicht mehr geben wird. Natürlich wollen die Besitzer aber auch vermeiden, dass der Wert ihrer Immobilien sinkt. Sie haben also einen Anreiz, sich an innenstädtischen Strategieprozess zu beteiligen.

Haustex: Wie stark, glauben Sie,
können die richtigen Strategien der
drohenden Verödung der
Innenstädte entgegenwirken?

Hedde: Natürlich werden die Besuche in der Innenstadt rückläufig sein - auch künftig. Trotzdem glaube ich, dass wir einiges bewirken können, wenn wir die Frage stellen, wie wir die einzelnen Besuche mit neuem Mehrwert aufladen können. Hier kommt wieder das Thema Zusammenspiel rein. Besuche im Stadtverwaltungskontext können beispielsweise Frequenz bringen oder die innenstadtnahe Unterbringung von Bildungseinrichtungen. Dabei sollte es nicht um einzelne Ideen gehen, sondern um das Selbstverständnis einer jeden Stadt.

Haustex: Damit wären wir bei Punkt
drei und vier Richtung für die
zukunftsfähige Innenstadt:
Funktion und Markenimage.

Hedde: Richtig, einige gewichten vielleicht die Megatrends höher, andere nehmen spezifische Zielgruppen in dem jeweiligen Einzugsgebiet in den Fokus. Es gibt viele Aspekte, die auf die Innenstadtgestaltung wirken.

Haustex: Berücksichtigt eine Stadt
alle vier Punkte, stehen die
Chancen also gut, ein passendes
Konzept zu finden?

Hedde: Das sehe ich so, habe aber noch eine Ergänzung: Ich bin überzeugt, dass das Thema Bürgerpartizipation eine immer größere Bedeutung bekommen wird. Wenn wir sagen, in der Innenstadt geht alle Macht von den Besucherinnen und Besuchern aus, dann sollten wir sie nicht nur fragen, was ihnen gefällt und nicht gefällt, sondern sie aktiv an der Gestaltung der Zukunft beteiligen.

Haustex: Wie kann eine solche
Beteiligung aussehen?

Hedde: Sie kann zum Beispiel die Form einer digitalen Plattform haben. In Fulda haben wir im Rahmen einer digitalen Zukunftswerkstatt die Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, auf einer solchen Plattform Ideen einzubringen, diese gegenseitig zu kommentieren und weiterzuentwickeln. Nach drei Monaten waren 250 Vorschläge zusammengekommen, von denen drei bereits in diesem Jahr umgesetzt werden.

Haustex: Können solche Projekte
auch in kleinerem Rahmen
funktionieren?

Hedde: Selbstverständlich. Das kann heruntergebrochen werden bis auf eine Straßenzug oder einzelne Händler. Die Frage, auf die es hinausläuft, ist schließlich immer dieselbe: Was wünschen sich die Kundinnen und Kunden und wie kann ich diese Wünsche erfüllen?
aus Haustex 11/21 (Wirtschaft)