Boris Thomas zum Bereich Matratzen/Schlafsysteme

60 Jahre Geschichten rund ums Bett


Wenn man sich heute in einem modernen Bettenfachgeschäft umschaut, so kann man sich kaum vorstellen, dass vor 60 Jahren Matratzen oder gar Unterfederungen dort kaum zu finden waren. Stellen heute Bettsysteme in spezialisierten Bettenfachgeschäften über die Hälfte der Umsätze - so war dies in den 50er Jahren deutlich anders. Für Matratzen war der Möbelhandel zuständig. Sie gehörten zur Ausstattung eines Schlafzimmers und wurden an Ort und Stelle mit verkauft. Und die Unterfederung war noch gar nicht erfunden. Spiralrahmen waren der Standard. Das änderte sich erst 1957, als wir mit Lattoflex den ersten Lattenrost der Welt auf der Möbelmesse in Köln präsentierten. Zum ersten Mal gab es flexible Holzleisten, welche für eine rückengerechte Lagerung des Schläfers sorgten. Aus heutiger Sicht kaum zu glauben, aber dieses Produkt war ein echter Reinfall. Auf Holz schlafen? Einer Gartenpforte? Und dann das Ganze zum dreifachen Preis einer damals üblichen dreiteiligen Federkernmatratze wie zum Beispiel von Schlaraffia?

Der Handel reagierte mehr als skeptisch und hielt sich mit Bestellungen zurück. Und auch der Konsument war noch nicht überzeugt. Es war die Zeit des Nachholbedarfs. Niemand fragte nach dem Sinn von Produkten. Oder war bereit dafür, mehr Geld zu bezahlen, nur weil etwas besonders gesund war. So wartete die Entwicklung des heutigen Bettsystems, so wie wir es kennen, einige Jahre auf ihre Entdeckung. Hilfe kam in diesen Jahren von Seiten der Medizin und der Wissenschaft. In Ärztezeitschriften berichtet man von den Vorteilen einer flexiblen Unterfederung und in Fernsehsendungen zeigte man die ersten Röntgenaufnahmen von Personen in Seitenlage auf diesem neuartigen Holzlattenrost. Und dann begann der Siegeszug. Ab Mitte der 60er Jahre war der Bann gebrochen. Der Konsument hatte verstanden und wollte dieses neuartige Liegeprodukt ausprobieren. Und auch der Handel zog mit - wenn auch erst mal vor allen Dingen der Möbelhandel. Der Bettenhändler verdiente damals noch sein Geld mit den anderen Sortimenten wie Daunendecken oder Handtüchern. Die Matratzen zu der Zeit waren aus heutiger Sicht lächerlich dünn. Eher waren es Auflagematten. Ohne jedes Profil oder gar Zonen dienten sie eher dem Abpolstern der harten Holzleisten. Ergonomisch sicher bis heute richtig - aber wie wir sehen mussten, verlangte der Kunde zunehmend dickere Matratzen. Dann ging alles ganz schnell. Vieles was wir heute als Standard an einem Lattenrost kennen, wurde damals bereits erdacht und im Produkt umgesetzt. Von der Schulterzone bis zur Zonenverstärkung. Von der Kopfhochlagerung bis zum Motorahmen. Kaum ein Jahr, in dem nicht etwas Neues hinzugefügt wurde. Und auch die Matratze entwickelte sich. So gab es in den frühen 70er Jahren erste Belüftungskammern, Wellenschnitte und die ersten Schulterzonen. Auch wurden die Matratzen zunehmend dicker. Beherrschende Matratze dieser Zeit war der Federkern, gefolgt mit deutlichem Abstand vom Schaum. Das sollte auch über viele Jahre die Aufteilung im Markt bleiben. Erst zu Beginn des neuen Jahrtausends überholte die technisch überlegenere Schaummatratze die gute alte Metallfeder. Sicherlich müssen wir rückblickend sagen, dass die 70er Jahre für unsere Branche ein wahrhaft goldenes Zeitalter waren. Lattoflex präsentierte in der Zeit das erste Messbett der Welt - der Dosigraph. Die Idee von einem individuell angepassten Bettsystem war geboren. Eine Idee, die bis heute unsere Branche bewegt.

Dann kam es zum ersten großen Bruch in der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Krieg in Deutschland. In der Krise, die 1982 begann, wurde unser gesamter Markt umgekrempelt. Der Nachfragemarkt, wo alles, was produziert werden konnte auch seinen Kunden fand, brach zusammen. Von nun an bestimmte der Kunde die Regeln des Geschäftes. Es war der Wechsel vom Verkäufer- zum Käufermarkt. Viele Unternehmen verschwanden damals - im Handel wie in der Industrie. Und wer sich nicht auf die neuen Gesetze des Marktes einstellen konnte oder wollte, überlebte diese Krise nicht. Damals gab es auch die ersten Idee für eine intensivere Kooperation zwischen Handel und Industrie. Ideen wie Thomas-Studio wurden aus dieser Krise geboren und veränderten die Zusammenarbeit in unserer Branche bis heute. Im folgenden Jahrzehnt wurde das Bettsystem immer weiter verfeinert. Neue Unternehmen kamen in diesen Markt. Firmen wie Röwa oder Swissflex machten sich einen Namen und besetzen neue Segmente in unserer Branche.

Aber jede Party ist einmal zu Ende. Nach dem Fall der Mauer gab einen kurzen, letzten Anstieg - aber seit 1993 brach die bundesdeutsche Binnennachfrage zusammen und erholte sich seitdem nicht mehr. Mit schweren Konsequenzen für die Handelslandschaft wie bei den Herstellern. Namhafte Marken gerieten in den Strudel des Niedergangs und wurden von anderen übernommen. Speziell die Recticelgruppe verstand es, die Gunst der Stunde zu nutzen und eroberte in dieser Zeit die Spitzenposition auf dem deutschen Markt. Kennzeichen der letzten Jahre sind sicherlich ebenso ein Sterben auf Handelsseite. Viele kleine Fachgeschäfte schließen ihre Pforten für immer. Entweder weil es keine Nachfolger gibt, oder weil die wirtschaftliche Perspektive nicht ausreichend erscheint. Und sicherlich hat es eine deutliche Verschiebung in den Bereich Discount und in die Großfläche auf der so genannten grünen Wiese gegeben. Als Ende der 80er Jahre die ersten Bettendiscounter wie Concorde oder das Dänische Bettenlager starteten, wurden sie von selbsternannten Branchenkennern noch belächelt. Ich selbst habe diese Gespräche oft erlebt. "Unsere Kunden werden da niemals kaufen! Und wenn, dann kommen die irgendwann reumütig zurück!" - eine Legende, auf die auch andere Länder wie z.B. die Schweiz vertraut haben. Aber eben eine Legende - die fern der Wahrheit ist. Der Siegeszug der Discounter ist eine Tatsache, vor der wir gerade in den hochwertigen Segmenten nicht die Augen verschließen dürfen. Sätze wie "Man merkt es doch der Kunde will jetzt wieder Beratung und kommt zurück ins Fachgeschäft!" dienen da eher wie ein Schmerzmittel auf Verbandstagungen - es betäubt den Schmerz - hilft aber auch nicht weiter. Und verschließt den Weg zu einer Lösung. Wir müssen lernen und schauen, was dort passiert. Nur dann haben wir auch eine Chance, weiterhin erfolgreich am Markt bestehen zu können.

Und wie geht es weiter? Die Selektion im Handel wird sich fortsetzen. Es gibt keine Bestandsgarantien. Konzentration und echte Spezialisierung sind der einzige Weg zum Überleben. Sich seine Nische suchen und lieber König in einem kleinen Reich als Hofnarr in einem Kontinent! Auf der Ebene der Produkte wird sich diese Segmentierung ebenso fortsetzen. Oben finden wir immer ausgefeiltere Spitzenprodukte - mit Zusatzfunktionen und dem Einsatz von High-Tech-Werkstoffen. Die Standardprodukte wie der normale, inzwischen veraltete Holzlattenrost werden im Preis weiter optimiert und versorgen das untere Ende der Preisleiter. Dazwischen bleibt kein Platz mehr - weder für Hersteller noch Händler. Der weitere wichtige Punkt ist für mich eindeutig, dass wir wieder lernen müssen, den Käufer zu bewegen. Matratzenberatung ist kein menschliches Grundbedürfnis. Deshalb müssen wir ihn direkt angehen. Mit Aktivitäten durch die Tür in den Handel "treiben". Und dazu bedarf es einer völlig neuen Zusammenarbeit zwischen Industrie und Handel. Gemeinsam können wir hier viel bewegen und neue Kunden für unsere Bettsysteme bekommen. Denn am Ende bleibt eine schlichte Wahrheit: wir alle leben vom Verkauf von Matratzen und Unterfederungen. Sie sind Träger unserer Wertschöpfung. Alle anderen Versuche, hier Einnahmealternativen wie z.B. Dienstleistungen aufzubauen, sind bisher alle gescheitert. Die gegenwärtige Krise stellt nur eine Frage: Was ist wirklich wichtig? Und die Antwort kannten wir schon vor 60 Jahren: wir brauchen verkaufte Produkte. Unsere ganze Werbung und all unser Marketing müssen diese eine Frage beantworten und am Ende Matratzen verkaufen. Und dazu müssen wir wieder lernen, dem Kunden unsere Geschichte zu erzählen. Emotionen und Image dürfen nicht überhand nehmen. Sie hindern sonst unseren Erfolg.

60 Jahre sind eine lange Zeit. Die Haustex hat diese ganze Zeit unsere Branche begleitet. Hat kritisch alle Irrungen und Wirrungen kommentiert. Wurde zum Sprachrohr unseres Segmentes. Ich glaube, dass die nächsten 60 Jahre genauso spannend bleiben. Denn wir haben ja auch spannende Produkte und eine spannende Geschichte zu erzählen. Wer weiß, wie im Jahre 2069 unsere Betten aussehen werden. Aber wie auch immer wir zu der Zeit Matratzen bauen, eines weiß ich jetzt schon sicher: auch dann werden Menschen in der Nacht sich hinlegen und schlafen. Und auch in 60 Jahren werden Menschen sich sehnsüchtig einen tiefen, erholsamen und schmerzfreien Schlaf wünschen. Und diesen Wunsch werden wir dann erfüllen. 1949, heute und morgen.
aus Haustex 08/09 (Wirtschaft)