Beschwerden und Reklamation

Aus Fehlern Nutzen ziehen

"Wenn ich bei einem augenblicklichen Ärger Geduld habe, kann ich mir Kummer für ein ganzes Leben ersparen", wussten die in vielem so lebensweisen alten Chinesen. Und aus der Philosophie der griechisch-römischen Antike kennen wir einen weiteren zuverlässigen Wegweiser durch die Fährnisse und Untiefen des Lebens, die hilaritas, die heitere Gelassenheit.

An die segensreiche Wirkung von Geduld und Gelassenheit gilt es in unserer eiligen Zeit wieder zu erinnern. Denn: Der Stil der Auseinandersetzung beeinflusst deren Inhalt wesentlich. So belegt eine McKinsey-Studie aus dem Jahr 1999 beispielsweise, dass die äußeren Einflüsse auf den Gang der Dinge einen viel stärkeren Einfluss ausüben (ca. 80 Prozent) als der Anlass selbst und der Inhalt vorgetragener Argumente. Eine Erkenntnis, die schon Machiavelli um 1513 in seinen Discorsi zu der Mahnung veranlasste: "Ich halte es für einen der größten Beweise menschlicher Klugheit, sich in seinen Worten jederBeleidigung zu enthaltenBeleidigungen steigern den Hass (des Feindes) gegen dich, und spornen ihn an, nachhaltiger auf dein Verderben zu sinnen."

Dieses Wissen gilt es für den Umgang mit Beschwerden und Reklamationen zu nutzen. Mit Geduld und Gelassenheit und der dann möglichen Um- und Weitsicht angegangen, lässt sich ihnen rasch der Stachel des Ärger- oder gar Bedrohlichen nehmen. Um das richtig zu tun, ist eines stets zu bedenken: Für Kunden sind Beschwerden und Reklamationen in erster Linie ein emotionales Problem. Deshalb liegt auch die entscheidende Weichenstellung im Umgang mit Beschwerden und Reklamationen darin, Betroffene mit ihrem aufgewühlten Innenleben nicht im Regen stehen zu lassen, sondern ihnen das Gefühl zu geben, mit ihrem Anliegen angenommen und nicht abgewimmelt zu werden. Denn Streit wird vor allem durch verletzte Gefühle ausgelöst und aufrechterhalten. Gelingt diese emotionale Einnahme der Kunden, ist die Angelegenheit schon weitgehend entschärft.

Es kommt also darauf an, die innerbetrieblichen Verhaltensweichen in diese Richtung zu stellen, indem der Belegschaft immer wieder verdeutlicht wird: Kunden nehmen den zeitlichen und psychischen Aufwand einer Beschwerde oder Reklamation nur auf sich, wenn sie sich subjektiv stark betroffen fühlen. Wird ihnen in dieser Situation nicht mit Einfühlungsvermögen begegnet, sondern mit Gleichgültigkeit, Abwiegelung oder gar der Unterstellung, selbst das Problem aus Unachtsamkeit verursacht oder absichtlich herbeigeführt zu haben, dann führt dieses Verhalten nicht allein zu einer weiteren inneren Abwertung des gekauften Produkts, sondern meist auch direkt zum Verlust des empörten Kunden.

Zahlreiche Untersuchungen belegen das. Und auch: Es ist um ein Mehrfaches teurer, einen neuen Kunden zu gewinnen als einen alten im Fall einer Beschwerde oder Reklamation souverän zufrieden zu stellen. Und damit neu und fester zu binden! Beschwerden und Reklamationen haben immer zwei Seiten: die emotional-menschliche und die rational-kaufmännische. Wobei der Schlüssel zur Problemlösung auf der emotional-menschlichen Seite liegt.

Das Wissen um diese Zusammenhänge bedeutet selbstverständlich nicht, auf sorgfältige Prüfung der Berechtigung der Beschwerde beziehungsweise Reklamation zu verzichten. Sehr wohl aber, sich im Zweifelsfall aus gutem Grund für Kulanz oder einen souveränen Kompromiss zu entscheiden. Auch der Mundpropaganda, kurz der Weiterempfehlung zuliebe. Denn stärker noch als über ihre positiven Erfahrungen reden Kunden über ihre Enttäuschungen bei Beschwerden und Reklamationen. Und verbinden diese Schilderungen mit heftigen Warnungen vor einem Kontakt mit dem betreffenden Betrieb!

Betriebswirtschaftlich heißt das: Werden diese Zusammenhänge nicht bedacht, entsteht dem Betrieb doppelter Schaden: Aus unmittelbaren und zukünftigen Umsatz- und Gewinnverlusten der verlorenen Kunden. Und aus den verhinderten Geschäften mit den gewarnten potentiellen Kunden. Um nicht in diese Beschwerde- und Reklamationsfalle zu tappen, empfiehlt es sich, ein entsprechendes Beschwerde- und Reklamationsbewusstsein im gesamten Betrieb zu formen. Auch indem die Bedeutung von Beschwerden und Reklamationen dadurch allen vor Augen geführt wird, dass Inhaber oder Geschäftsführung sich auch persönlich Zeit dafür nehmen. Beispielsweise indem sie sich um Lektüre und Beantwortung von Beschwerdebriefen kümmern, in größeren Betrieben auch Beschwerdereports einfordern und deren Inhalte zum Gegenstand von Diskussionen machen.

Und - indem darauf verzichtet wird, bei einer Beschwerde oder Reklamation auf der Stelle nach einem Schuldigen zu suchen. So menschlich verständlich das ist, so wenig dient das aber dem betrieblichen Interesse. Dem nutzt einzig und allein eine sorgfältige Fehler-, das heißt Ursachenanalyse. Allein sie sorgt dafür, zukünftige vergleichbare Pannen zu vermeiden. Das heißt nicht, dass notorisch schusselige oder grob unbedacht handelnde Mitarbeiter immer ungeschoren davon kommen. Das heißt nur, stets im Auge zu behalten, dass nichts die immer unverzichtbarere Mitarbeiterinitiative mehr blockiert als die realitätsferne Vorstellung, auf keinen Fall Fehler machen zu dürfen.

Dieser offene, entwicklungsorientierte Umgang mit Beschwerden und Reklamationen schafft noch ein häufig gar nicht erkanntes Problem aus der Welt. Wird beispielsweise als Zielsetzung im Qualitätsmanagement ausgegeben, die Zahl der Beschwerden und Reklamationen zu reduzieren, wird damit ein gänzlich anderer als der anvisierte Effekt ausgelöst, nämlich ein automatischer Anreiz zu ihrer Vertuschung. Auch wo geglaubt wird, negative Assoziationen vermeiden zu können, indem innerbetrieblich auf so "heikle" Begriffe wie Beschwerde und Reklamation verzichtet und stattdessen der vermeintlich positiv besetzte Begriff "Kundenfeedback" verwendet wird, wird unterschwellig nur deutlich gemacht, dass kritische Äußerungen von Kunden eigentlich doch als so problematisch und Problem behaftet angesehen werden, dass man sie nicht einmal beim Namen nennen mag. Nennt der Betrieb die Dinge aber beim Namen und fokussiert seine Aufmerksamkeit auf das Verbesserungspotential der ohnehin unvermeidlichen Beschwerden und Analysen, entfällt die beschriebene Problematik automatisch.

Fazit: Beschwerden und Reklamationen sind ein selbstverständlicher Bestandteil des Betriebsgeschehens. Ihre Problematik liegt nicht in ihrer Existenz, sie liegt in ihrer falschen Behandlung. Klug genutzt, sorgen sie für zwei wichtige Dinge: überzeugter und fester an den Betrieb gebundene Kunden und ein selbstverständliches betriebliches Lernklima.

Hartmut Volk
aus Haustex 10/07 (Handel)