Dr. Geert Böttger:

Die strukturelle Stärke der indischen Heimtextilproduktion

Indien hat eine außerordentlich reichhaltige Heimtextilproduktion. Eine lebendige Designtradition, unterschiedlichste Produktionsformen und handwerkliches Können ermöglichen eine faszinerende Vielfalt zu guten Preisen. Die Industriestruktur Indiens ist im Sektor Heimtextilien einzigartig: Der Sektor ist geprägt von einer Vielzahl von Kleinunternehmen, deren Produktion und Export extensiv gefördert wird. Es gibt parallel schnell wachsende, mittelgroße und große Unternehmen, die in kurzer Zeit starke Marktpositionen erarbeitet haben. Indische Kleinunternehmen bietet Vorteile hinsichtlich Mindestgröße von Aufträgen, Flexibilität und Schnelligkeit, und "Nischenkompetenz". Hochmoderne Industriekomplexe bieten große Vorteile hinsichtlich economies of scale, Konstanz der Qualität, Kraft zur technologischen Modernisierung, und Lieferfähigkeit.

Nebeneinander von Handarbeit und Industrieproduktion

Die Position der indischen Heimtextilindustrie ist ganz anders als die der Türkei, oder Chinas. Das liegt stark an der Industriepolitik Indiens, die bis vor einiger Zeit vor allem Kleinunternehmen und textile Handwerksbetriebe gefördert hat. Es liegt aber auch an den Handelsquoten, die in manchen Produktbereichen wie z.B. Bettwäsche für Indien zu niedrig waren, um große Investitionen begründen zu können. Viele Produkte aus den Bereichen Gewebe, Heimtextilien und Bekleidung konnten nicht industriell produziert werden. Eine Vielzahl der kleinen Unternehmen hat eine enorme Vielfalt der im Handwerk gefertigten Produkten ermöglicht, die heute eine absolute Stärke der indischen Heimtextilindustrie darstellen. In Indien sind nach Angaben des Handloom Export Promotion Councils über 3 Millionen Handwebstühle in die Produktion eingebunden. Kleine Losgrößen, sichtbare, dekorative Handarbeit, überwiegend aus natürliche Materialien wie Baumwolle, Seide, und Jute bestimmen die Produktion.

Wir kennen eine Reihe von Unternehmen, die hochwertige im Handwerk produzierte Heimtextilien zu günstigen Preisen aus Indien kaufen oder mit den indischen Partnern entwickeln. Auch Editeure.

Entsprechend hat Indien aber in manchen Teilen der industriellen Großproduktion erhebliches Nachholpotential. Das ist z. B.in der schwachen Position bei Frotteewaren zu sehen. Die Türkei oder Pakistan sind hier über viele Jahre sehr viel stärker gewesen. Seit einer Revision der Industriepolitik wachsen aber gerade in diesem Bereich viele indische Unternehmen wie z.B. Welspun oder Trident enorm schnell. Es wird heutzutage in neue Produktionsanlagen mit modernster Technologie investiert und immer weniger auf den Gebrauchtmarkt mit abgebauten Anlagen aus Westeuropa zurück gegriffen

Textilexporte sind wichtigste Devisenquelle

Die indische Textilproduktion insgesamt ist ein ganz wichtiger Pfeiler seiner Volkswirtschaft. Sie macht etwa 20 % der Produktion des Landes aus und realisirt ca. ein Drittel der Deviseneinnahmen. Damit sind Textilexporte die wichtigste Quelle von Deviseneinnahmen. Baumwolle ist der wichtigste Rohstoff, der in Indien verarbeitet wird. Mit weitem Abstand dahinter folgen Polyester, Seide und Acryl. Bezogen auf die Anzahl der Arbeitsplätze ist der Textil- und Bekleidungssektor die zweitwichtigste Branche in Indien.

Die Exporte der indischen Textilindustrie steigen kontinuierlich (Schaubild 1). Die Wachstumsraten sind bis 2004 unter 10 % gewesen. Die Zunahme des Exports um 15% von 2003 auf 2004 zeigt, dass auch die indischen Textilunternehmen und ihre Kunden zu den Gewinnern der fallen gelassenen Welthandelsbeschränkungen zählen. Importeure und Exporteure haben begonnen, sich auf die Zeit nach dem Fall der Quoten vorzubereiten.

Der weitaus größte Anteil der Exporte 2004 ist Bekleidung (Schaubild 2). Konfektionierte Heimtextilien machen knapp 13 % aus, dazu kommen noch Stoffe, die für Heimtextilien verwendet werden.

Nach Exportdestinationen sind die USA der größte Absatzmarkt, gefolgt von Hongkong und Deutschland. (Schaubild 3). Zusammengenommen ist die EU der wichtigste Absatzmarkt für die indischen Exporteure von Textilien.

Wichtigster Grund für die Exportstärke der indischen Textilwirtschaft sind die niedrigen Produktionskosten. Im letzen internationalen KSA - Beschaffungsvergleich von 2005 liegen die indischen Produktionskosten bei 17 % der Kosten von Großbritannien, während die Türkei bei 53 % und China bei 13 % liegt (Schaubild 4). Zu den niedrigen Produktionskosten kommt als wichtiger internationaler Wettbewerbsvorteil, dass Indien eine der Textilregionen ist, die eine tiefe und reichhaltige textile Wertschöpfungskette von der Faser bis zum Bekleidungsstück bzw. bis zum Heimtextil aufweist. Wenn die textile Kette in Indien gut organisirt wird, ist das Land ideal für die "One Stop Full Package" Beschaffung. Und das ist ganz klar der Trend.

Die Organisationsformen der Produktion

Die Textilindustrie Indiens muß in drei Sektoren unterteilt werden, die verschiedene Organisationsformen der Produktion vor allem bei Geweben beschreiben:

(1) "Mill sector": mit mills werden vor allem Untenehmen umschrieben, die mittelgroß bis groß sind, und in der Regel Garn produzieren sowie weitere Produktionsstufen, wie die Faserproduktion und/oder Gewebeproduktion im industriellen Maßstab zum Gegenstand haben. Vor zwei Jahren wurden alle Produkte für den "Mill sector" freigegeben, seitdem wächst dieser auch für Heimtextilien sehr schnell.

(2) "Handloom sector": hier dominieren Kleinunternehmen mit 2 - 10 Handwebstühlen. Der Sektor ist berühmt für seine Handwerkskunst, Die Produktion pro Unternehmen ist zwar gering, allerdings gibt es Tausende dieser Kleinunternehmen.

(3) "Powerloom sector": die Webstühle werden mechanisch betrieben und die Größe der Unternehmen liegt typischerweise bei 40 - 80 Webstühlen.

Neue Textilpolitik führt zu international wettbewerbsfähigen Unternehmensgrößen

Die Textilpolitik Indiens und die Textilwirtschaft haben mittlerweile Maßnahmen ergriffen, um die Chancen, die sich aus dem Fall der Handelsbeschränkungen ergeben, besser zu nutzen und um dem verstärkten Wettbewerbsdruck aus z.B. China und Pakistan besser begegnen zu können. Dazu gehören u.a. folgende politische Massnahmen:

- Die Reservierung von Produkten für die Herstellung durch kleine Unternehmen wurde aufgehoben (z.B. Frotteewaren)
- Ausländische Unternehmen dürfen sich nunmehr zu 100 % statt vorher nur zu 25 % an indischen Unternehmen beteiligen
- Die steuerlichen Vorteile des Powerloom Sectors wurden abgeschafft; das war ein ernstes Hemmnis für die Herausbildung größerer Produktionseinheiten mit economies of scale .
- Kredite für Modernisierungsinvestitionen werden 5 % unter Marktzinsniveau ermöglicht

Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten werden vor allem durch den Mill Sector in Anspruch genommen und führen zur schnellen Entwicklung von sehr leistungsfähigen, großen Unternehmen, die bis zum Endprodukt vertikalisiert sind.

Rolle der Export Promotion Councils

Die kleinen Unternehmen werden seit Jahren durch Export Promotion Councils gefördert, die Unterstützung im Bereich Marketing, Produktentwicklung, Produktionsqualität und Export bieten. Es gibt im Textilsektor sieben wichtige Export Promotion Councils, u.a. Handloom Export Promotion Council, Apparel Promotion Council und den Export Promotion Council for Handicraft. Diese Export Promotion Councils werden vom Textilministerium finanziert und sind sehr einflussreich für die Formierung der vielen Kleinunternehmen. Neben den oben angeführten Funktionen haben sie auch einen starken informellen Einfluß auf die Bildung von Subcontract- und Kooperationsverhältnissen zwischen den Unternehmen und den verschiedenen Formationen des Textilsektors.

Besonders dynamisch ist seit einigen Jahren der Export Promotion Council for Handicraft (EPCH), welches allerdings nicht nur textile Kleinunternehmen betreut, sondern auch Schmuckproduzenten, Kleinmöbelproduzenten etc. EPCH hat sich weltweit einen Namen gemacht durch die Organisation der IHGF - Indian Handicraft and Gift Fair, die inzwischen 25 Mal stattgefunden hat und mehr als 1800 indische Aussteller aus den Bereichen Inneneinrichtung und persönliche Accessoires zweimal jährlich präsentiert. Wenn man so will eine Maison y Objet oder eine Ambiente Indiens.

Zukünftig will EPCH noch weitere Messen entwickeln wie z.B. die IFFTEX - Indian Furnishings, Floorings & Textile Expo und die IFS - Indian Furniture Show.

EPCH entwickelt für seine Mitglieder eigene Handelsplattformen und die werden mit der wachsenden Bedeutung Indiens und seinen sich entwickelnden Fähigkeiten angenommen werden. Dem EPCH sind inzwischen über 7000 Unternehmen angeschlossen. Die Wachstumsrate der Mitgliederzahl liegt seit Jahren deutlich über 10 %.

Indien wird sich für Heimtextilien zur interessanteste Beschaffungsbasis der Welt entwickeln.

Zusammengefaßt sehen wir Indien als den wichtigsten Beschaffungsmarkt für Heimtextilien, weil

- die Produktionskosten aufgrund des außerordentlich ergiebigen Arbeitsmarkts niedrig bleiben werden
- die schnell wachsenden großen Industriefirmen Lieferfähigkeit, konstante Qualität und eine Integration in die Wertschöpfungskette der großen Abnehmer in den USA und Europa ermöglichen
- die Kleinunternehmen geringe Anforderungen an Mindestaufträge stellen, flexibel sind, und ein hohes Mass an Produktdifferenzierung bis hin zum Unikat ermöglichen
- die Produktionsstrukturen über Subcontracting miteinander verbunden werden und dadurch einen flexiblen Verbund bilden können
- die indische Textilpolitik die Strukturen geschaffen hat, die sowohl Kleinunternehmen wie auch mittlere und große Unternehmen fördert
- ausländische Firmen, die in Indien aus Beschaffungsgründen eine Kooperation eingehen möchten, eine große Anzahl möglicher Partner finden, die sich bei konkreten Chancen sehr engagiert einbringen.

Dr. Geert Böttger ist Geschäftsführer der internationalen Unternehmensberatung Expo+Consulting Associates mit Büros in Düsseldorf, Paris, Barcelona, Mumbai und Istanbul.
aus BTH Heimtex 11/05 (Deko, Gardinen, Sonnenschutz)