Stationärer/Online-Handel: Thesenpapier sagt dramatische Veränderungen voraus

"Die Handelswelt von heute wird es in sechs Jahren nicht mehr geben"

Gravierende Veränderungen prognostizieren die Experten vom IFH für den Handel - und zwar bereits innerhalb der nächsten sechs Jahre. Nur wer kreativ und flexibel auf das sich rasant verändernde Kaufverhalten reagieren kann und das klassische Denken in Vertriebskanälen überwindet, habe eine Überlebenschance. Das gelte gleichermaßen für den stationären wie den Onlinehandel. Profiteure dieser Entwicklung können die Anbieter starker Marken sein.

Bislang hieß es immer, der Online-Handel werde dramatische Auswirkungen auf den stationären Handel haben. Aber die Entwicklung schreitet so rasant voran, dass inzwischen auch die Onlinehändler darüber nachdenken müssen, wie sie in Zukunft noch am Markt bestehen können. Kaum haben sie sich einigermaßen etabliert, stehen die neuen Geschäftsmodelle schon zur Disposition. Das Kundenverhalten wandelt sich, ständig entstehen neue technische Möglichkeiten und daraus resultierende Anforderungen seitens der Verbraucher.

"Nur Händler, die ihr Kerngeschäft um flexible Konzepte erweitern, haben künftig eine Chance", sagt Dr. Kai Hudetz, Geschäftsführer des Kölner Instituts für Handelsforschung, und meint damit den stationären wie den Online-Handel. Das IFH veröffentlichte fünf Thesen zu Zukunft des Handels bis 2020, die dramatische Veränderungen vorhersagen. "Es besteht die Gefahr einer Erosion im Handel. Die Handelswelt von heute wird es in sechs Jahren nicht mehr geben", so der Autor Prof. Dr. Nikolaus Mohr von der Managementberatung Mücke Sturm & Company.

These 1

70 % der traditionellen Händler werden sich völlig neu erfinden oder verschwinden.

Bis zu 30 % aller stationären Outlets werden bis zum Jahr 2020 aus dem Markt ausscheiden - so eine Prognose des IFH Köln. Weitere 40 % werden nur überleben, wenn es ihnen gelingt, ihr Geschäftsmodell grundlegend zu verändern. Nur wer den online-getriebenen Anforderungen der Kunden gerecht werden kann, hat eine Chance zu überleben. "Die klare Botschaft heißt: Der traditionelle Handelskäufer stirbt aus und damit auch der traditionelle Handel", so Dr. Nikolaus Mohr.

These 2

90 % der derzeitigen reinen Online-Händler werden nicht überleben.

Der Markt der Pure Player wird sich aufgrund extrem niedriger Margen konsolidieren. Es werden sich nur diejenigen Konzepte durchsetzen, die Kernkompetenzen optimieren, ein klares Leistungsversprechen gegenüber dem Kunden abgeben und dies auch dauerhaft erfüllen können. "Bei den Pure Playern werden dies neben Amazon einige wenige Category-Spezialisten sein", so Dr. Kai Hudetz.

These 3

Kanaldenken war gestern - Multi-Touchpoint-Management ist morgen.

Kunden fordern schon heute "Next Level Cross Channeling": intelligente und kundenorientierte Konzepte, die dem Verbraucher an jedem Touchpoint einen echten Mehrwert bieten - ohne Kanalbrüche.

These 4

Flexible, relevante und unterhaltende Formate bestimmen den Handel der Zukunft.

Flexible und innovative Konzepte sind gefragt, die sich konsequent an der Customer Journey der Kunden orientieren. Händler, die es schaffen, ihr Kerngeschäft um neue, flexible und möglichst individuelle Konzepte zu erweitern und den Kauf zu einem Erlebnis machen, werden zukünftig erfolgreicher sein.

These 5

Starke Marken dominieren den Markt.

Das Internet erhöht den Anteil der markenorientierten Zielkäufer. Klare Gewinner dieser Entwicklung sind Hersteller und Händler mit starken Marken. Seit Jahren wachsen die Online-Shops der Hersteller deutlich schneller als der Online-Handel insgesamt. So zeigt eine Untersuchung des IFH Köln, dass der Online-Handel insgesamt zwischen 2008 und 2013 um den Faktor 2,5 gewachsen ist, während die Shops der Hersteller fast eine Vervierfachung erzielen.

Fachbegriffe erläutert


Customer Journey: Zyklen, die ein Kunde bei der Kaufentscheidung für ein Produkt durchläuft.

Multi-Touchpoint-Management: Die Schaffung unterschiedlichster Berührungspunkte (Touchpoints) mit einem Unternehmen/Produkt in den einzelnen Vertriebs- und Marketingkanälen und deren nahtloser Übergang.

Pure-Player: Anbieter, die nur in einem Vertriebskanal unterwegs sind.


Kommentar von Thomas Pfnorr

Alte Kaufmannstugenden sind gefragt


Das ist schon starker Tobak, den die Handelsexperten uns da um die Ohren hauen: Im schlechtesten Fall könnten bis zu 70 % der stationären Händler in den nächsten Jahren vom Markt verschwinden. Und sogar 90 % der Online-Händler stehen vor dem Aus - Stichwort: Marge. Dann soll es auch gleich die ganze Handelswelt, wie wir sie heute kennen, nicht mehr geben.

"Gemach, gemach", möchte man den Herren Mohr und Hudetz zurufen. Natürlich liegen sie richtig mit der Einschätzung, dass sich unser Einkaufsverhalten derzeit gravierend verändert. Nicht umsonst verschwindet ein Kaufhaus nach dem anderen, obwohl das dortige Angebot noch am ehesten mit dem Bauchladen von Amazon zu vergleichen wäre. Was im Netz funktioniert, ist in der Fußgängerzone ein Auslaufmodell.

Aber lässt man das ganze Marketing-Denglisch, ohne das es offenbar nicht geht, einmal beiseite, ist es eben auch nur das: ein verändertes Einkaufsverhalten.

Damit müssen sich Händler allerdings seit ewigen Zeiten auseinandersetzen. Sie müssen die Bedürfnisse ihrer Kundschaft auf eine denen genehme Art und Weise bedienen. Wenn dabei die Marge stimmt, sind sie erfolgreich.

Dass sich die Rahmenbedingungen derzeit schneller ändern als in der Vergangenheit, ist der Zeit und vor allem dem technischen Fortschritt geschuldet. Aber heute ist eben fast alles schneller als vor hundert Jahren. Das dürfte keinen Händler überraschen.
aus BTH Heimtex 09/14 (Wirtschaft)