Digitalisierung fordert den Großhandel heraus

Die Unternehmensberatung Roland Berger zieht eine ernüchternde Zwischenbilanz zum Digitalisierungsprozess im deutschen Großhandel. Dabei sind die Voraussetzungen gut, den sich verändernden Marktbedingungen gerecht zu werden. Gefordert ist das Management.

Das Thema Digitalisierung ist für den Fachhandel eine Herausforderung. Aber auch der Großhandel sieht sich mit veränderten Marktverhältnissen konfrontiert. Internet-Riesen wie Amazon, Google, Alibaba oder Ebay haben längst Angebote für das B2B-Geschäft entwickelt. Neben einer großen Bekanntheit im Netz werfen sie ihr Know how in Sachen technischer Infrastruktur, digitaler Geschäftsabläufe und Logistik in die Waagschale.

Gleichzeitig entdecken immer mehr Hersteller den digitalen Vertriebskanal für sich. 60 % der westdeutschen Großhändler sehen vor allem in den digitalen Plattformen der Industrie eine Bedrohung für ihr eigenes Geschäftsmodell, hat der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA) ermittelt. Aber nur 25 % sind bisher ihrerseits auf den Zug "Digitalisierung" aufgesprungen, so die ernüchternde Erkenntnis. Und es kommt noch schlimmer: "Selbst von den nach eigener Einschätzung im Bereich Digitalisierung stark aktiven Großhändlern glaubt jeder fünfte, dass seine Bemühungen noch nicht ausreichen, um im digitalen Wettbewerb zu bestehen", so die Einschätzung des Stellvertretenden Hauptgeschäftsführers André Schwarz.

Den Status quo haben die Unternehmensberatung Roland Berger und der BGA mittels einer Umfrage unter 890 deutschen Großhandelsfirmen untersucht. Die Ergebnisse wurden unter dem Titel "Digitale Transformation des Großhandels" zusammengefasst und sind als kostenloses PDF erhältlich (bit.ly/2io6J7k). "Großhändler, die sich nicht oder nicht ausreichend mit dem Thema Digitalisierung auseinandersetzen, gefährden nicht weniger als ihre Existenz: Sie riskieren, sich in einem historisch und teils heute noch auf persönlichen Kundenbeziehungen aufbauenden Geschäft langfristig nicht mehr gegen aggressiv wachsende Online-Konkurrenz behaupten zu können", heißt es dort. Dabei sind sich die Befragten der Bedrohung durchaus bewusst: Preistransparenz und deren Auswirkungen auf die Preisgestaltung, direkter (End-)Kundenzugang der Industrie mit einem gesteigerten Verständnis für die Bedürfnisse dieser Klientel, Sortimentsgestaltung, Logistik, aber auch die Finanzierungsfunktion werden in unterschiedlicher Ausprägung als kritische Felder gesehen. Und so halten 94 % der Großhändler das Thema Digitalisierung für wichtig; im baunahen Großhandel sind es sogar 95 %.

Doch leider bedeutet "Gefahr erkannt" nicht automatisch "Gefahr gebannt", stellt man bei Roland Berger fest. Die Unternehmen gehen die Digitalisierung nicht konsequent genug an. Fehlende technische Voraussetzungen, ein zu großer Aufwand bei der internen Abstimmung und die mangelnde Kompetenz der Mitarbeiter wurden als größte Hemmnisse genannt.

Am weitesten scheint der Großhandel bei der digitalen Kundenbindung zu sein. Insgesamt 67 % richten aktuell ihren Fokus auf diesen Bereich, 49 % betreiben sie schon. Die darauf aufbauende quantitative Kundendatenanalyse (Big Data, siehe Kasten auf Seite 184) nutzen dann nur noch 26 %. Und RFID-Technik (Radio Frequency Identification) spielt bei gerade einmal 9 % schon eine Rolle.

Die Initiative zur Digitalisierung geht in den Großhandelsfirmen in erster Linie (71 %) vom Top-Management aus. Die zentrale Rolle bei der Umsetzung wird primär der IT-Abteilung (45 %) zugeschrieben, die Bedeutung von Marketing (24 %) und Vertrieb (22 %) wird als weitaus geringer eingeschätzt. Ein Fehler, wie die Autoren der Studie meinen: Gerade der Vertrieb verfügt über zentrales Wissen, das zur Interpretation der erhobenen Kundendaten erforderlich ist. Einen zentralen Verantwortlichen (Chief Digital Officer, CDO) haben übrigens nur 14 % der Befragten eingesetzt. Die große Mehrheit lässt die Digitalisierung durch bestehende Mitarbeiter und Abteilungen umsetzen.

Eine Aufgabe für das Management

Roland Berger weist auch darauf hin, dass Digitalisierung nicht nur als Reaktion auf neue Konkurrenz zu verstehen ist, sondern sich dem Großhandel durch sie auch neue Chancen und Absatzwege eröffnen. Mit logistischer Kompetenz, dem persönlichen Kundennetzwerk, umfangreichen Sortimenten und detaillierten Produktkenntnissen hat er die Voraussetzungen, sich auch im digitalen Markt erfolgreich zu positionieren. Im Rahmen einer individuellen Strategie brauche es dafür:

- ein Bewusstsein für die digitalen Möglichkeiten und Notwendigkeiten,
- ein wirkliches Verständnis bestehender und neuer Zielgruppen,
- eine Verbindung analoger und digitaler Kanäle (Omnichannel),
- die Aufhebung der klassischen Trennung zwischen Innen- und Außendienst.

Und ein Top-Management, dass die Digitalisierung nicht nur initiiert, sondern kontinuierlich vorantreibt und die Mitarbeiter dabei mitnimmt. Der Faktor Mensch spielt eine wichtige Rolle, gerade weil sich Organisationsstrukturen veränderten. Wer sich digitales Fachwissen ins Haus holt, muss aber auch bereit sein, auf die Experten zu hören, statt diese anleiten zu wollen.

thomas.pfnorr@snfachpresse.de


Fachbegriffe erklärt

Big Data - Ein Sammelbegriff für Technologien, die große digitale Datenmengen (Big Data) erfassen, analysieren, für die Nutzung aufbereiten und vermarkten können. Das hilft Unternehmen, ihre Vertriebseffizienz zu steigern und die Kundenbetreuung zu verbessern, etwa durch spezifischere und schnellere Angebote.

Crowdsourcing - Gemeint ist einerseits die Auslagerung bislang (Firmen-)interner Aufgaben an eine Gruppe von Freiwilligen, in diesem Falle Kunden. Andererseits das Sammeln von Ideen und Reaktionen von außerhalb des Unternehmens. Dabei kann es u.a. um die Entwicklung neuer Produkte oder Dienstleistungen gehen.

Omnichannel - Bei diesem Geschäftsmodell wird der Kunde von der Recherche über den Einkauf bis zu Postsales-Dienstleistungen auf unterschiedlichsten Kanälen (Channel) angesprochen. Neben dem stationären Geschäft können dies etwa Angebote im Internet, über Apps oder per Telefon sein.

RFID - Das Kürzel steht für Radio Frequency Identification, zu Deutsch etwa Identifizierung mittels elektromagnetischer Wellen. Dabei handelt es sich um ein System aus Sender und Empfänger, mit dem sich Waren identifizieren und lokalisieren lassen. Das hilft vor allem bei der Logistik, bietet nach Aussage von Roland Berger aber auch neue Möglichkeiten für die Daten- und Kundenanalyse.
aus BTH Heimtex 03/17 (Großhandel)